Wir kommen im Traum…

..sogar, wenn wir schon ziemlich alt sind. Warum das gut ist: Eine Kolumne.

„Seit sieben Jahren lebe ich in einer Partnerschaft, jedoch in getrennten Domizilen. Ich bin 79 Jahre alt, mein Partner ist zehn Jahre jünger. Unsere lebhafte Beziehung sprudelt von Köstlichkeiten und Spirit, doch der sexuelle Akt findet nur noch selten statt. Ich bedaure das heimlich. Ich habe jedoch nachts, im Schlaf, Träume, die einen heftigen Orgasmus bewirken können. Ich erwache regelmässig in einem wohligen entspannten Wohlbefinden. Ich frage mich: ist das normal?“

Charlotte*, 79 Jahre alt, per Leserbrief

Ja, natürlich! Soweit meine Antwort auf die Frage nach der Normalität. Denn erotische Träume hat jeder Mensch. Sexualität ist ein Bereich unseres Lebens, der eine wichtige Rolle spielt. Genau wie andere Erlebnisse verarbeitet unser Gehirn Sexualität, Erotik und Lust in Träumen. Die Besonderheit von erotischen Träumen ist bloß: wir neigen dazu, sie in teilen stärker zu hinterfragen als andere Träume. Dagegen sind wir bei Träumen jenseits von Sex-Themen oft total unbefangen. Mir hat jedenfalls noch nie jemand die Frage gestellt, ob ein Traum vom Pizzaessen, vom Fliegen oder vom Motorradfahren normal sei.

Dabei ist es toll, erotische Träume zu haben, die angenehme Gefühle bereiten. Betrachten wir diese Träume als Ressource. Gehirn und Körper nutzen den Schlaf nicht nur zur Erholung, sondern die erotischen Träume setzen noch einen drauf: Wir wachen mit einem körperlichen Wohlgefühl auf, das uns entspannt und froh in den Tag starten lässt. Perfekt! Die Grübeleien über „normal“ oder „unnormal“ sind eigentlich völlig überflüssig. Sie haben nichts mit Biologie und Bedürfnissen zu tun. Sie hängen viel eher mit Erziehung und Moralvorstellungen zusammen. Also, wenn möglich: weg damit.

Orgasmen, die während erotischer Träume stattfinden, sind laut Wissenschaft sehr verbreitet. Die meisten Männer kennen nächtliche Samenergüsse. Bei Frauen haben Forschende[1] bereits 1983 im Rahmen einer Studie nachgewiesen, dass während des REM-Schlafes immer wieder Phasen nachweisbar sind, in denen die vaginale Durchblutung messbar ansteigt. Zur Erläuterung: Der REM-Schlaf bezeichnet die Phase, in der das Gehirn sehr aktiv ist und in der wir träumen. 

Die Frauen, die im Rahmen dieser Studie untersucht wurden, waren zwar erst 21 bis 35 Jahre alt. Doch nach meiner Erfahrung ist Sexualität ein Bereich unseres Lebens, der uns von der Geburt bis zum Tod begleitet – im Wachzustand und beim Träumen. 

Aber wie häufig haben ältere Menschen erotische Träume? Eine Frage, zu der es nicht besonders viel Forschung gibt. Ich habe eine Studie aus dem Jahr 2011[2] gefunden, die ein bisschen Statistik liefert. 22 Prozent der älteren Menschen, die befragt wurden, hatten erotische Träume. Sie gaben an, dass sie etwa drei- bis viermal pro Monat lustvoll träumten – Frauen genauso wie Männer. 

Ich kann mir vorstellen, dass in Wirklichkeit deutlich mehr ältere Menschen erotisch träumen. Denn selbst in anonymen Umfragen ist es für viele Ältere Menschen tabu, ihre Fantasien und Träume zu offenbaren. Sie reden nicht über ihre erotischen Träume. Warum eigentlich nicht? Wie wäre es, das auszuprobieren? Wenn Ihnen jemand einfällt, dem Sie es erzählen möchten: Nur Mut. Die Wahrscheinlichkeit, dass es anderen so geht wie Ihnen, ist hoch.

Als ich neulich mal in einem Seniorenheim zu einem Gesprächskreis über Sexualität und Liebe war, sind die Teilnehmenden richtig ins Schwatzen gekommen. Wir haben zur Einstimmung ein paar alte Schlager gehört. Das hat das Eis gebrochen. Die Menschen haben geredet. Über ihre sexuellen Erfahrungen, über schöne Momente der Liebe, über Lust. Alles mögliche, das sonst tabuisiert wurde, kam zur Sprache. Alle haben gespürt, wie viel Ähnlichkeit ihre Empfindungen und Bedürfnisse haben. Die Gespräche hatten etwas enorm Verbindendes.

In meiner täglichen Arbeit mit Menschen mache ich übrigens keine Unterschiede zwischen jung und alt. Ich kläre mit allen Klienten, ob sie Medikamente nehmen, deren Nebenwirkungen sich auf ihre Sexualität auswirken könnten. Ich spreche darüber, wie zufrieden Paare mit ihrer gelebten Sexualität sind. Ich frage, wie sie Sex definieren und was sie glücklich macht.

Diese Themen stecken auch im Leserbrief von Charlotte. Sie schildert eine glückliche Liebesbeziehung mit ihrem Partner. Sie bedauert, dass es nicht mehr so häufig wie früher zum Sex kommt. Sie merkt an, dass sie und ihr Partner in getrennten Wohnungen leben. Mein Eindruck: Die erotischen Träume schaffen in dieser Situation eine ganz eigene Ebene von Verbundenheit. Eine emotionale Verbindung von Charlotte mit ihrem Partner, die sich in nächtlichen Lustträumen niederschlägt.

Wäre Charlotte bei mir in der Praxis, würde ich ihr vorschlagen, mit ihrem Partner über Träume und nächtliche Orgasmen zu sprechen. Weil es etwas sehr schönes ist, das ihrer Beziehung einen besonderen Wert gibt. Teilen sie es. Erzählen Sie von ihren Wohlgefühlen. Auch wenn Sie im wachen Leben weniger Sex als früher haben, so ist es doch etwas sehr Schönes, dass ihre Liebesbeziehung bis in die Träume hinein wirkt und sogar nächtliche Orgasmen auslöst.

Wenn wir älter werden, verändert sich Sexualität. Ältere Menschen sind oft nicht mehr so fokussiert auf konkrete Stimulation und vaginale Penetration. Sie begegnen sich eher auf einer Verbundenheits-Ebene. Sie mögen die Nähe, halten die Hand des Partners, denken intensiv an ihn oder sie oder träumen eben davon, Lust mit ihm zu erleben. 

Die entscheidende Frage ist: Passt das so für beide – oder möchten Sie etwas ändern?

Falls die Antwort „ja“ lautet: Sie dürfen ihre Träume auch für eine Standort-Bestimmung in Sachen gelebter Sexualität nutzen. Sind sie mit gelegentlichen Träumen zufrieden? Oder möchten Sie sich aktiv Lust bereiten – zum Beispiel durch Selbstbefriedigung oder durch gemeinsamen Sex? Nur zu! Schöpfen Sie Freude, Kraft und Entspannung aus ihrer Sexualität.

Und nun sind Sie dran:

Wie fühlt sich für Sie der „Moment danach“ an? Die Minuten des Erwachens nach einem erotischen Traum – oder die Zeit nach real erlebtem Sex? Formulieren Sie, wie es Ihnen „danach“ geht. Halten Sie die Wohlgefühle in Worten fest und nehmen Sie sich bewusst einen Moment Zeit, wahrzunehmen und wertzuschätzen, was Ihnen ihre Träume, Fantasien und Erlebnisse mitgeben.


[1] C. Fisher M.D., Ph.D., H. D. Cohen B.A., R. C. Schiavi M.D., D. Davis B.S., B. Furman M.A., K. Ward B.A., A. Edwards B.A. & J. Cunningham B.A. (1983): Patterns of female sexual arousal during sleep and waking: Vaginal thermo-conductance studies. https://link.springer.com/article/10.1007/BF01541556

[2] Gurvinder Kalra, Alka Subramanyam, and Charles Pinto (2011): Sexuality: Desire, activity and intimacy in the elderly. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3267340/

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