..aber nicht in die Tat umgesetzt werden müssen. Eine Kolumne.
Von Carsten Müller
„Wir haben neulich ein Kommunikationsspiel für Paare gespielt, was erstmal wirklich Spaß gemacht hat. Bis zu dem Moment, in dem ich eine Karte aufgedeckt habe, in der es um sexuelle Fantasien ging. Ich habe meinem Mann spontan erzählt, dass ich mir manchmal einen Dreier vorstelle. Mit ihm und einem anderen Typen. In dem Moment ist die Stimmung gekippt, und er hat mich gefragt, ob ich mit ihm alleine nicht zufrieden bin. Wir haben uns dann wirklich in die Haare gekriegt. Er meinte, ihn setzt das unter Druck, wenn ich mir sowas vorstelle. Jetzt wissen wir gar nicht mehr, wie wir mit dem Thema umgehen sollen, und ich habe das Gefühl, irgendwas falsch gemacht zu haben.“
Sanjoghta*, 35, und Michael, 34
Sexuelle Fantasien sind erst mal Fantasien. Nicht mehr und nicht weniger – einfach: Fantasien. „Sie werden definiert als mentale Bilder und Gedanken, die für die Person im Wachzustand sexuell erregend oder erotisch sind (…)“, schreibt der US-Psychologe Justin J. Lehmiller [1]. Sie können beim Sex auftauchen, aber auch, wenn ein Mensch gerade keinen Sex hat. Viele Menschen können sie aktiv herbeirufen, um ihre sexuelle Erregung zu steigern. Manchmal entstehen sie einfach, wenn jemand sexuell erregt ist [2].
Oft beeinflussen Impulse von außen, welche Fantasien Menschen entwickeln. Man sieht etwas in einem Film und fängt an, sich das für das eigene Sexualleben vorzustellen. Als „Shades of Grey“ zu einem weltweiten Bestseller wurde, fantasierten Millionen Menschen von sadomasochistischem Sex. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie im echten Leben dieses praktizieren wollten – geschweige denn, dass sie ihrem Partner oder ihrer Partnerin haarklein erzählt hätten, welche Vorstellungen in ihren Köpfen entstanden waren.
Sexuelle Fantasien sind sehr verbreitet. Laut verschiedener US-Studien, die der Psychologe Justin J. Lehmiller in einer großangelegten Untersuchung zusammenfasst, „geben 90 – 97% der Allgemeinbevölkerung an, sexuelle Fantasien zu haben und diese zu nutzen, um ihr Verlangen zu stimulieren und ihre Erregung zu verstärken.“ [3] Völlig normal also – und nichts, wofür wir uns in irgendeiner Form schämen müssten. Im Gegenteil, sexuelle Fantasien tun der Lust gut.
Für Paare lohnt es dennoch, zu überlegen: Wie gehen wir mit unseren Fantasien um? Möchten wir sie teilen und mitteilen? Und was ist mit der Übersetzung von Fantasien in die Realität: Streben wir das wirklich an?
Eine Szene aus meiner Praxis: Als die beiden aus dem Beispiel zu mir kamen, waren sie ziemlich durchgerüttelt. Dass seine Frau vom einem Dreier mit einem anderen Mann fantasiert hat, hat in Michael sofort die Sorge ausgelöst: Ich bin ihr nicht genug. Dabei nahm er ganz selbstverständlich an, dass seine Frau die Dreier-Fantasie auch in die Tat umsetzen wolle. Eine emotionale Gemengelage, aus der wir erst einmal herausfinden mussten.
Ich habe die beiden gefragt: Ist der Sex zu dritt überhaupt etwas, das Michaels Frau unbedingt erleben will? Der Dreier ist eine sehr geläuftige Fantasie, bei Männern wie bei Frauen. Aber die Umsetzung in der Wirklichkeit kann es ganz schön in sich haben.
Michaels Frau hat spontan geantwortet, dass sie darüber eigentlich noch gar nicht konkret nachgedacht hätte. Das haben wir gemeinsam getan: Wer wäre der Dritte, wo würde das Treffen stattfinden, Hotel – daheim – beim unbekannten Dritten – und wie wäre die Choreographie des sexuellen Miteinanders? Über diese konkreten Fragen kam Michaels Frau schnell zu dem Schluß, dass der Dreier kein Wunsch war, der Wirklichkeit werden sollte. Sondern einfach nur Kopfkino, das sie erregte.
Wir haben grundsätzlich über die Frage gesprochen, wie andere Menschen mit sexuellen Fantasien umgehen. Setzen die alles in die Tat um? Michaels Einschätzung: Vermutlich nicht. Ich kann das bestätigen. Natürlich kann man Fantasien in die Realität holen, aber man muss es nicht. Die meisten Menschen tun es übrigens nicht. Allein durch diese Erkenntnis fühlte sich die Dreier-Fantasie seiner Frau für Michael nicht mehr bedrohlich an.
Es kann natürlich anregend sein, über Fantasien zu sprechen. Nehmen wir mal die Vorstellung, vom Partner oder der Partnerin in Unterwäsche begrüßt zu werden. Und vorher heiße Nachrichten zu bekommen. Sich dominant oder devot zu verhalten. Viele Menschen erleben es als aufregend, sich solche Szenarien vorzustellen und darüber zu sprechen. Ob Sie das wollen und ob ihre Beziehung so gut ist, dass beide Menschen am Ende damit glücklich sind, wenn Fantasien offengelegt werden, sollten Paare sich am besten vor der eigentlichen Kommunikation überlegen.
Fantasien dürfen nämlich ungesagt bleiben. Es ist eine individuelle Entscheidung, darüber zu reden – oder es zu lassen. In der Praxis bitte ich oft Klienten, ihre Fantasie aufzuschreiben. Das Blatt stecken wir in einen Umschlag, der zugeklebt wird. Dann bitte ich den Partner oder die Partnerin, zu überlegen, was für eine Fantasie im Umschlag des anderen stecken könnte. Ich frage auch nach dem „worst case“: Was für Fantasien gäbe es, die Sie von ihrem Partner oder ihrer Partnerin auf keinen Fall hören wollen würden? Häufig nennen die Menschen dann so etwas wie Gewalt-Fantasien oder einen Schuh-Fetisch.
Die Worst-Case-Frage ist eine Chance für Paare. Denn sie gibt dem Gegenüber, der sich das alles anhört, die Möglichkeit, Fantasien für sich zu behalten. Wenn ich bereits weiß, dass mein Partner etwas gar nicht hören möchte, halte ich einfach den Mund. Und das ist völlig in Ordnung. Denn Fantasien gehören zu unserer Privatsphäre. Wir dürfen darüber sprechen, aber niemand muss das. Der Reflex, sich alles zu erzählen, ist häufig da – aber ihm nachzugeben hieße ja, über jede Masturbations-Fantasie zu sprechen. Und das will niemand. Die Gedanken sind frei – und sollten es auch bleiben.
UND NUN SIND SIE DRAN
Wie könnte ein sexuelles Szenario aussehen, das Ihnen Lust bereitet? Überlegen Sie sich Bilder und stellen Sie sich Szenen vor. Sie dürfen gern ihre ihre sexuelle Lieblingsfantasie nehmen und dazu ein Szenario wie für ein Kino-Drehbuch entwerfen. Wenn Sie mögen, schreiben Sie es auf. Reflektieren sie danach nur für sich selbst, ob sie diesen Film drehen wollen oder nicht.
[1] Justin J. Lehmiller, Tell Me What You Want: The Science of Sexual Desire and How It Can Help You Improve Your Sex Life. 2018. https://www.researchgate.net/publication/327140003_Tell_Me_What_You_Want_The_Science_of_Sexual_Desire_and_How_It_Can_Help_You_Improve_Your_Sex_Life
[2] https://www.lilli.ch/sexuelle_fantasien_probleme ist eine empfehlenswerte Homepage mit Informationen über Sexualität. Sie richtet sich insbesondere an junge Menschen.
[3] Justin J. Lehmiller, Tell Me What You Want: The Science of Sexual Desire and How It Can Help You Improve Your Sex Life. 2018.
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