Wie ein Baby das Sexualleben verändert – und warum gerade Väter verstehen sollten, was bei ihrer Frau (nicht) läuft.
„Unser Sohn ist zehn Wochen alt, er ist ein absolutes Wunschkind. Ich finde es toll, Vater zu sein. Aber für meine Frau und mich ist nichts mehr wie früher. Es gibt einfach überhaupt keinen Sex mehr. Das Baby klebt fast 24/7 an ihr, und wenn nicht will sie ihre Ruhe. Neulich wollte ich mich einfach nur auf der Couch an sie kuscheln, aber das war ihr schon zu viel. Wie soll das denn jetzt für mich weitergehen? Ich liebe meine Frau, und ich habe Lust auf Sex. Ich möchte, dass wir wieder so wie früher miteinander schlafen – das kann doch jetzt nicht alles vorbei sein?“
(Luis, 36*)
Doch. So hart das klingt: Es kann alles vorbei sein. Erstmal. Keine Sorge, das ändert sich wieder. Aber direkt nach der Geburt haben sehr viele Paare wochenlang gar keinen Sex miteinander. „Sexuelle Aktivitäten werden erst etwa sechs bis acht Wochen nach der Geburt wieder aufgenommen“, stellen italienische Forschende in einer systematischen Auswertung mehrerer Studien fest [1].
In den ersten Monaten nach der Geburt erleben viele Paare eine komplett „sexlose“ Zeit. Denn die Geburt eines Kindes ist so ziemlich der heftigste Einschnitt, den es in einer Beziehung gibt. Auf einmal ist alles anders. Das Baby gibt jetzt den Takt vor. Es weint, es will an die Brust, es fordert eine Menge Aufmerksamkeit. Es steht komplett im Mittelpunkt – und das ist auch gut so. Der Körper der Frau wird zum Versorgungswerk, die Brust ist nicht mehr erogene Zone, sondern menschlicher Schnuller. Im Bett liegen Spucktücher, Stilleinlagen – und das Baby.
Als Luis mit seiner Frau Yvonne zum ersten Mal in meine Praxis kam, hatte sie tiefe Ringe unter den Augen und das schlafende Baby im Arm. „Er wacht sofort auf, wenn ich ihn hinlege“, sagte sie entschuldigend. Danach beschrieb sie, wie ihr neuer Alltag aussah. Während ihr Mann wieder arbeitete, wollte der kleine Sohn ständig an die Brust. Oder getragen werden. Mindestens aber auf dem Bauch der Mutter liegen. Ein Kind mit großem Bedürfnis nach Nähe, fast rund um die Uhr. Wenn es ihr ausnahmsweise gelang, ihn in sein Bettchen zu legen, wollte Yvonne einfach nur ihre Ruhe. Während ihr Mann Lust darauf hatte, mit ihr zu schlafen.
Drei Menschen und dreimal ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Auch wenn es vor der Geburt zwischen Partnern eine gelebte sexuelle Normalität gab, muss danach alles neu verhandelt werden. Das fängt damit an, über die neuen Bedürfnisse zu sprechen. Ein Neugeborenes möchte schlafen, trinken und versorgt sein. Eine Mutter, die ihr Kind stillt und viel herumträgt, möchte ausruhen, wenn es irgendwie geht. Der Vater fühlt sich dann vielleicht abgemeldet – was verständlich ist, denn irgendwie ist das ja so. Gleichzeitig wünscht er sich Nähe und Zärtlichkeit.
Eine Frage, die ich frischgebackenen Vätern oft stelle, ist folgende: Warum ist Sex denn gerade so wichtig für Sie? „Naja, ich habe viel zu tun und bin auch mal gestresst, da brauche ich das einfach“, ist eine häufige Antwort. Daraufhin frage ich, warum die Bedürfnisse des Vaters denn wichtiger seien als die seiner Frau oder die seines Kindes. Und schon sind wir in der Auseinandersetzung über die Frage, wer seine Bedürfnisse zurückstellen kann oder sollte – und wie ein Ausgleich aussehen könnte.
Wenn der Mann erwartet, dass er drei Wochen nach der Geburt eines Kindes ganz wie früher mit seiner Frau schlafen kann, ist das schlicht unrealistisch. Es hilft sehr, wenn Vätern klar ist: Es ist normal, dass in dieser Lebensphase Sex nicht das Beziehungsding Nr. 1 ist. Paare sollten in dieser Situation über Erwartungen sprechen – und über Alternativen. Das entlastet beide. Der Mann muss respektieren, wenn seine Frau nicht will. Die Frau muss respektieren, dass der Mann Lust hat. Es kann eine Phase geben, in der Solo-Sex für ihn eine gute Lösung ist. Ich finde, das sollte für die Frau dann auch okay sein.
Ich erlebe sehr viele Väter, die großes Verständnis für ihre Frau aufbringen. Die wissen, dass die Gebärmutter sechs Wochen Zeit braucht, um auf Normalmaß zu schrumpfen. Die mitfühlen, wenn ihre Frau wunde Brustwarzen vom Stillen hat. Die verstehen, dass sich das Körpergefühl ihrer Frau verändert, wenn nach der Geburt Dehnungstreifen, Schwangerschafts-Kilos oder Kaiserschnitt-Narben bleiben. Diese Form von Einfühlungsvermögen hilft. Und jeder Vater, der sich über zu wenig Sex beklagt, möge sich bitte einfach mal vorstellen, das alles würde mit seinem Körper passieren.
Interessanterweise verändert sich körperlich auch bei jungen Vätern etwas. Und zwar der Testosteron-Spiegel. Forschende kamen darauf, als sie sich die Tierwelt ansahen. Bei Tierarten, in denen die Männchen sich gemeinsam mit dem Weibchen um den Nachwuchs kümmern, sinkt nach der Geburt von Jungtieren der Testosteronspiegel merklich. Damit einhergehend lässt der Paarungsdrang nach. Der US-Antropologe Lee Gettler und weitere Forschende fragten sich, wie das bei Menschen aussieht, und beschäftigten sich in zwei Studien[2] mit dem Zusammenhang von Vaterschaft und Testosteron-Wert. Sie stellten fest, dass der Testosteron-Wert von Männern sank, nachdem sie Vater geworden waren. Gleichzeitig nahm die sexuelle Aktivität in ihrer Partnerschaft ab.
Noch interessanter finde ich, dass die Forschenden nachweisen konnten, wie Care-Arbeit und Testosteron-Spiegel zusammenhängen: Väter, die sich drei Stunden täglich oder mehr um ihre Babys kümmerten, hatten nochmal niedrigere Testosteron-Werte als andere Männer, die sich nicht so viel mit dem Baby beschäftigten. Der niedrigere Testosteron-Wert wiederum wirkt sich darauf aus, wie viel Lust auf Sex ein Mann hat. Die Kümmerer unter den Vätern haben also ein weniger ausgeprägtes Bedürfnis nach Sex, was im Grunde für die Phase direkt nach der Geburt ein praktischer Effekt ist.
Was die Wissenschaft nachweist, erlebe ich in der Praxis immer wieder: Nach der Geburt von Kindern verändert sich Sexualität permanent. Es ist einfach nicht „wie früher“. Der Blick zurück ist wenig hilfreich. Besprechen Sie lieber, wie Sie sich ihr Sexleben im Augenblick und in Zukunft vorstellen.
Yvonne und Luis hatten in unseren Gesprächen erkannt, dass es nur darum ging, eine Phase zu überbrücken. Ein paar Monate, keine Ewigkeit. Nach einem halben Jahr ist die Durststrecke meist vorbei. Das gegenseitige Begehren kommt wieder – und mit der nächsten Lebensphase beginnt eine spannende Entdeckungsreise zu einer neuen Sexualität.
Und nun sind Sie dran: Reden statt warten
Etwa sechs Monate nach der Geburt eines Kindes ist ein guter Zeitpunkt, über Sex zu sprechen. Überlegen Sie konkret, welche Rahmenbedingungen Sie für entspannten Sex brauchen. Muss das Kind schlafen? Darf es im Nebenraum sein – oder muss es von jemandem versorgte werden (Großeltern, Babysitter)? Was muss erledigt sein, damit sich beide Partner auf den Sex einlassen können (Wäsche, Einkäufe, Aufräumen..)? Finden Sie heraus, was für Sie persönlich passende Rahmenbedingungen sind.
[1] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34563859/ Pietro Grussu, Benedetta Vicini, Rosa Maria Quatraro: Sexuality in the perinatal period: A systematic review of reviews and recommendations for practice, 2021.
[2] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21911391/ Lee Gettler, Thomas W. McDade, Alan B. Feranil, Christopher W. Kuzawa: Longitudinal evidence that fatherhood decreases testosterone in human males, 2011 und https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24018138/ Lee Gettler, Thomas W. McDade, Sonny S. Agustin, Alan B. Feranil, Christopher W. Kuzawa: Do testosterone declines during the transition to marriage and fatherhood relate to men’s sexual behavior? Evidence from the Philippines, 2013.
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