Warum es nicht darum gehen sollte, Sexting zu verteufeln – und was erotische Kommunikation mit Wissen und Spielregeln zu tun hat. Eine Kolumne.
Von Carsten Müller
Neulich habe ich ein paar Interviews gegeben. Und hatte das Gefühl, dringend etwas richtigstellen zu müssen. Es ging um eine Studie, die sich damit beschäftigte, wie viele Jugendliche pornografische Bilder bekommen, ohne dass sie es wollen. Die Macher der Studie haben das Sexting genannt. Weil das ein völlig falsches Bild vermittelt, geht es heute um die Frage, was Sexting wirklich ist – und wie Menschen Sexting einvernehmlich genießen können.
Fragen Sie Eltern nach Teenagern und Sexting. Sie werden erfahren, dass Sie in der Regel sehr viel dafür geben würden um Sexting zu verhindern. Viele halten es für gefährlich und wollen ihre Kinder schützen. Dabei ist Sexting eigentlich ein normaler Teil der Sexualität, und wenn ich erkläre, was es bedeutet, reagieren manche Eltern sogar überrascht und erleichtert. Schauen wir mal, ob Sie auch dazu gehören?!
Hier die Grundlagen: Das Wort „Sexting“ setzt sich aus „sex“ und „text“ zusammen. Es bezeichnet den Austausch von sexuell expliziten Nachrichten, Fotos oder Videos über digitale Medien, insbesondere Smartphones. Sexting können sexuelle Textnachrichten sein. Oder erotische Selfies. Oder Sprachnachrichten mit sexuellem Inhalt, oder explizite Videos, aber auch Emojis mit entsprechender sexueller Bedeutung. Fast die Hälfte aller Erwachsenen hat schon einmal eine Sexting-Nachricht verschickt, und das finde ich überhaupt nicht verwunderlich, denn Kommunikation ist ein Teil unserer Sexualität.
Wo liegt also das Problem? Sexting sollte einvernehmlich sein, natürlich gibt es Risiken und es ist in Deutschland ab 14 Jahren legal. Wenn jemand einer anderen Person ungefragt oder sogar gegen deren Willen ein Nacktfoto schickt, ist das kein Sexting, sondern schlicht und einfach ein Übergriff, der in vielen Fällen strafbar ist. Das gilt unabhängig davon, ob Erwachsene oder Kinder die Empfänger sind. Aber was ist mit der überwiegenden Mehrheit der Sexting-Kommunikation, die zwischen Jugendlichen oder Erwachsenen stattfindet, für die es eine reizvolle Ebene und Teil der bunten Tüte einer gelebten sexuellen Aktivität ist? Menschen sind visuelle Wesen, und es kann sehr erregend sein, sich selbst oder Partner nackt oder beim Sex zu fotografieren oder zu filmen..
Aber es braucht Spielregeln. Erstens: Bevor man ein Bild oder einen Text mit sexuellem Inhalt verschickt, sollte man sich erkundigen, ob Sexting in Ordnung ist. Einfach fragen. Was hältst du davon, wenn ich dir ein Nacktfoto von mir schicke? Kannst Du Dir das vorstellen, möchtest Du das? Was für ein Bild oder Video würdest Du gerne sehen? Und wann kann ich Dir etwas schicken? Niemand möchte unbedarft in der Straßenbahn eine Nachricht checken und riskieren, dass intime Nacktbilder für alle Umstehenden sichtbar werden. Außerdem weis ich ja gar nicht in welcher Situation der andere Mensch gerade ist. Wer Sexting betreiben möchte, kann und sollte daher Vereinbarungen über Inhalte und Zeitfenster treffen. Dazu gehört auch die Frage, ob die Genitalien zu sehen sein dürfen oder nicht. Dann ist der erste Schritt getan: Sexting findet einvernehmlich statt. Auch hier gilt, ein grundsätzliches Okay heisst nicht, dass man nicht mehr darüber spricht oder es als gegeben voraus setzt. Sexting braucht eine ständige Aushandlung von Konsens und Rahmenbedingungen.
Risiken gibt es trotzdem. Digitale Bilder und Videos können weitergereicht werden, durch ein Datenleck an die Öffentlichkeit gelangen oder durch Diebstahl oder Verlust des Handys in fremde Hände geraten. Wer Bilder und Videos austauscht, sollte sich deshalb vorher absprechen: Was passiert mit den Bildern? Archivieren wir sie auf den Geräten oder löschen wir sie? Wie gehen wir mit den Bildern um, wenn wir uns trennen? In der Praxis hatte ich einmal den Fall einer Frau, deren Ex nach der Trennung so gekränkt war, dass er Nacktfotos von ihr herumgeschickt hat – an Freunde, an den neuen Partner – und das hat erst aufgehört, als die Betroffene einen Anwalt eingeschaltet und den Ex-Freund angezeigt hat. Damit es nicht so weit kommt, kann es sinnvoll sein, so viel und so früh wie möglich zu löschen.
Für den Fall, dass Bilder in falsche Hände geraten: Bitte kein Victim Blaming. Schuld ist immer derjenige, der die Bilder missbraucht. Die Person, die die Bilder gemacht hat, hat dies im Vertrauen getan – und das ist in Ordnung. Nacktfotos zu teilen ist kann für Mensch ein Zeichen von Zusammengehörigkeit, Beziehung, Partnerschaft und Lust sein. Das steht jedem zu, egal ob der Mensch 17 oder 47 Jahre alt ist.
Kann etwas schief gehen? Natürlich. Aber das ist kein Grund, es nicht zu tun. Ich erlebe immer wieder Lehrerinnen und Lehrer, die dem Thema Sexting mit der Haltung begegnen: „Mach das nie wieder!“ Oder „Mach das bloß nie“ Das ist Quatsch. Es muss einfach Wissen vermittelt werden. Menschen, egal ob jung oder alt, brauchen Informationen darüber, was sie tun können, damit Sexting in Zukunft möglichst sicher abläuft. Wer kein Wissen hat, lernt durch Erfahrung. Schlechte Erfahrungen wirken lange nach. Manchmal haben sie enorme Auswirkungen. Ich kenne Familien, die weggezogen sind, weil Fotos ihrer jugendlichen Kinder verschickt wurden und in der Schule kursierten. Das ist leider ein Teil der Realität, aber zum Glück nur ein kleiner. Kurzum gilt auch hier: Bildung statt Verbote.
Jugendliche sind im Umgang mit Nacktbildern oft noch experimentierfreudiger als ihre Eltern. Sie schicken die Bilder zum Beispiel auf Plattformen, wo sie nach dem Betrachten gelöscht werden. Das ist zwar auch keine hundertprozentige Sicherheit, denn es kann immer noch sein, dass Bilder auf Servern herumliegen und geleakt werden oder jemand einfach den Bildschirm filmt, während ein Video läuft. Insgesamt finde ich aber, dass viele Jugendliche verantwortungsvoll, informiert und feinfühlig mit Sexting umgehen. Ich mache mir keine großen Sorgen um die Jugendlichen, denn ich sehe, dass die meisten eine klare Vorstellung davon haben, wie sie mit Pornografie und mit Sexting umgehen wollen.
Eine einfache Methode, die ich allen empfehle, die Sexting betreiben, ist der Oma-Test. Würde Ihre Großmutter Sie auf dem Foto oder Video wiedererkennen? Das Gesicht lassen viele sowieso weg – aber was ist mit der Einrichtung, der Bettwäsche, der Kleidung, dem Hintergrund oder dem Schmuck? Je weniger Oma weiß, wem die Brüste, die Vagina oder der Penis gehören, desto näher kommt man dem „Safer Sexting“. Und damit einer durchaus schönen Komponente erotischer Kommunikation und sexueller Aktivität.
JETZT SIND SIE DRAN
Nehmen Sie sich ein Blatt Papier oder öffnen Sie eine Notiz-App und beantworten Sie folgende Fragen: Was bedeutet Sexting für mich persönlich? Sehe ich es eher positiv, negativ oder neutral? Warum sehe ich es so? Wie sind meine Erfahrungen in Bezug auf erotische Kommunikation?
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