Safer Sex ist nicht Safe Sex

Warum Sex nie sicher sein kann – und warum das auch die falsche Botschaft an junge Menschen ist. Eine Kolumne.

Von Carsten Müller

„Meine Tochter ist gerade 15 geworden, und ich denke, jetzt geht es langsam los mit Jungs. Wie bekomme ich es hin, dass Sex für sie sicher ist? Ich würde sie gern vor sexuellen Übergriffen und ungewollter Schwangerschaft schützen. Und ich bin wirklich besorgt, dass sie sich eine sexuell übertragbare Krankheit einfangen könnte. Es gibt einfach so viele Risiken, finde ich, und das Thema safer Sex beschäftigt uns gerade sehr. Machen wir uns zu viele Sorgen, und was können wir tun?“

(Frage eines Vaters bei einem Elternabend, wo ich eine offene Fragerunde angeboten habe)

Ich finde die Sorge des Vaters nachvollziehbar. Er möchte, dass seine Tochter weder sexualisierte Gewalt erleben muss noch als Teenager schwanger wird oder eine sexuell übertragbare Krankheit bekommt. So weit, so gut. Denn das ist erst einmal ein Zeichen dafür, dass jemandem etwas wichtig ist. Seid besorgt, liebe Eltern, das ist euer Job. Aber was ist der Umkehrschluss? Bedeutet es, dass ihr eure jugendlichen Kinder möglichst weit weg von dem haltet, was euch Sorgen macht? Oder wählt ihr einen anderen Weg und gebt den Heranwachsenden so viel an Information und Möglichkeiten mit, dass das Risiko möglichst gering ist? 

Safer Sex ist gut und wichtig, aber hundertprozentig sicheren Sex gibt es nicht. Sex ist ein bisschen wie Fahrradfahren. Ich kann einen Helm aufsetzen, vielleicht sogar so einen Airbag für den Kopf und eine Rückenprotektor. Ich kann die Verkehrsregeln kennen und vorsichtig fahren. Trotzdem kann es passieren, dass ich einen Unfall habe. Und dann? Der gebrochene Arm wird heilen. In den allermeisten Fällen werde ich mich erholen. Und so viel passiert nicht – denn viele Menschen passen auf.

Auch beim Sex. Laut einer Repräsentativstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [1], die im Jahr 2021 Ergebnisse zu Verhütungsverhalten und Jugendsexualität veröffentlichte, sind die meisten sexuell aktiven jungen Menschen gut informiert und darauf bedacht, sich und andere zu schützen. Zum Beispiel findet für nur fünf Prozent der Mädchen der erste Geschlechtsverkehr ohne Verhütung statt – damit ist „ein historischer Tiefstand erreicht“, so die Autoren der Studie. Dabei benutzen 73 Prozent ein Kondom zur Verhütung und schützen sich so gleichzeitig vor sexuell übertragbaren Krankheiten. Und falls ein Kondom reißt oder abrutscht, wissen 96 Prozent aller 14- 25jährigen jungen Frauen, dass sie in der Apotheke die „Pille danach“ bekommen, ohne dass sie eine Verschreibung benötigen. 

Aber unter welchen Umständen steigt eigentlich das Risiko, ungewollt schwanger zu werden? Passiert das, wenn die Eltern nicht genug mahnen und warnen? Nein. Die Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat einen anderen Grund ermittelt. Das Risiko ungewollter Schwangerschaften steigt immer dann, wenn es an vernünftiger Aufklärung und an brauchbaren Informationen hapert. Die Frage, die mir Eltern dazu oft stellen, lautet: Wie kläre ich mein Kind am besten auf? 

Ich empfehle, einfach ein paar Bücher [2] an einer zentralen Stelle in der Wohnung hinzustellen und dem jugendlichen Kind zu sagen: Schau, hier stehen Infos für Dich – die sind okay, die sind verlässlicher. 

Und dann? Lassen Sie die Jugendlichen machen. Und versuchen Sie, sich neugierige Nachfragen zu verkneifen. Es ist normal, dass die Eltern in der Pubertät nicht gerade Ansprechpartner Nr. 1 sind. Haben Sie Vertrauen. Ihr Kind wird selbst entscheiden, wann es welche Informationen nachlesen möchte.

An dieser Stelle spreche ich mit Eltern auch gern über Verantwortung. Wie viel Last legen sie auf die Schultern ihres Kindes, wenn sie über Gefahrenvermeidung sprechen? Gibt es Botschaften an die Tochter, dass sie nicht bauchfrei rumlaufen sollte, damit sie nicht zum Opfer eines sexualisierten Übergriffes wird? Warnen Eltern ihren Sohn davor, nicht nachts um drei hinter dem Bahnhof entlang zu stromern? Aber wenn dem Kind dann etwas passiert, wird es vielleicht nicht mehr zu seinen Eltern kommen, um sich ihnen anzuvertrauen. Denn die haben ihm ja vermittelt, dass es dafür zuständig sei, jedes Risiko auszuschließen. 

Ich möchte Mut machen, nicht den Jugendlichen die gesamte Verantwortung dafür zu übertragen, sich vor sexualisierten Übergriffen zu schützen. Die Verantwortung liegt bei der Gesellschaft. Jugendliche brauchen Freiraum, um Erfahrungen machen zu können.

Safer Sex kann übrigens auch sein, Sexualität in den eigenen vier Wänden stattfinden zu lassen. Darf das Kind Sex im eigenen Zimmer haben, ohne dass die Eltern dauernd Kekse bringen? Darf es die Tür abschließen? Ja, klar! Sollte dann eine Grenzüberschreitung stattfinden, so ist im geschützten Rahmen die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass Jugendliche sich ihren Eltern anvertrauen. Es ist viel einfacher, mit Eltern zu reden, die ihrem Kind diesen sicheren Freiraum einräumen, als wenn der Sex heimlich auf einem Parkplatz stattfindet – wo alles unsicher ist und obendrein verboten. 

Safer Sex bedeutet, ein Restrisiko zu akzeptieren – und sich darüber zu informieren. Zu wissen: Wenn etwas passiert, werde ich in den allermeisten Fällen damit klarkommen. Das Risiko, nach einem Verkehrsunfall bleibende Folgen davonzutragen, ist übrigens weitaus größer.

Ich möchte anregen, den jugendlichen Kindern einen Vertrauensvorschuss mitzugeben. Und ihnen zu vermitteln, dass sie Fehler machen dürfen. Für die Eltern bedeutet das, eine gewisse Gelassenheit zu entwickeln. Auch wenn das am Anfang vielleicht schwerfällt.

Der Vater, der um Safer Sex für seine 15jährige besorgt war, hat mir einen Monat nach dem Elternabend eine Mail geschrieben. Im Bücherregal würden jetzt ein paar Aufklärungsbücher stehen. Hin und wieder hätte seine Tochter darin gelesen. Und sie hätte einen Jungen kennengelernt. In Sachen Verhütung hätten er und seine Frau sich entschieden, weder zu warnen noch zu mahnen. Es sei zwar nicht so einfach, sich in Gelassenheit zu üben – aber sie seien auf einem guten Weg.

Und nun sind Sie dran: Glaubenssätze 

Lassen Sie uns einen kleinen Ausflug in Ihre eigene Biographie machen. Was wurde Ihnen von Eltern, Lehrern und anderen Bezugspersonen zum Thema Safer Sex mitgegeben? Finden Sie heraus, welche Glaubenssätze in Ihnen stecken. Wurde Ihnen gesagt: Spar Dich auf? Melde dich erst nach sieben Tagen, wenn ein Mann sich mit Dir treffen will? Dein Rock darf nicht zu kurz sein? Das „erste Mal“ wird auf jeden Fall weh tun? Was fällt Ihnen sonst noch ein? Schreiben Sie einfach mal auf Karten, was da zusammenkommt – und entscheiden Sie bewusst, welche Karten Sie in ihre eigene und in die Zukunft ihres Kindes mitnehmen möchten.


[1] BZgA-Repräsentativstudie „Jugendsexualität 9. Welle“, Faktenblatt Oktober 2021

[2] Empfehlenswert finde ich „Sex in echt – offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät“ von Nadine Beck und Rosa Schilling; „Make Love“ von Ann Marlene Henning; „FAQ YOU – Ein Aufklärungsbuch“, herausgegeben vom Verein Jugend gegen AIDS e.V.

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