Konsens wäre so viel einfacher, wenn es nur um Ja oder Nein ginge. Aber was machen wir mit dem Vielleicht? Wie Aushandeln Lust machen und Vertrauen schaffen kann – und das schon weit vor der sexuellen Aktivität.
Von Carsten Müller
„Ich glaube, wir sind uns meistens einig, was wir wollen. Warum sollten wir beim Sex darüber reden, ob wir einen Konsens haben? Ehrlich gesagt: Ich finde das total unsexy. Das macht irgendwie die Stimmung kaputt. Ich merke doch auch so, was meine Frau mag und was nicht. Wir kennen uns jetzt schon so lange. Meine Güte, soll ich dann jedes Mal fragen, was sie will?“
Steffen, 41*
Zwei Sätze, die beiläufig fallen. Denn das Paar, das vor mir sitzt, ist eigentlich aus einem anderen Grund gekommen. Sie wollen wissen, ob sie nach zehn Jahren Beziehung ihren Sex neu erfinden können. Dabei kommen wir auf das Thema Konsens: Wie sie sich darüber verständigen, was beim Sex passiert. Ich frage, ob sie sich beim Sex austauschen. Darüber, was sie mögen. Ganz konkret, etwa so: Hey, ist es okay, wenn ich jetzt deine Vulva küsse? Steffens erste Reaktion ist skeptisch bis genervt. Reden?! Wozu, wenn es doch auch ohne Worte geht?
Ich erlebe oft Menschen die es komisch finden, während der sexuellen Aktivität miteinander zu sprechen. „Das ist doch voll unsexy“, „Das bringt mich total raus“ sind dann einige der Kommentare dazu. Dabei ist Sprache in meiner Auffassung keine Ablenkung, sondern absolute Wertschätzung und wenn irgendetwas sexy ist dann ist es Wertschätzung und Konsens.Um Konsens auszuhandeln braucht es Kommunikation und diese ist so viel mehr als nur ein Ja oder Nein. Und es beginnt deutlich früher.
„Wie wäre es, wenn Sie mit Ihrer Frau einfach mal darüber reden, was Sie sich beide grundsätzlich vorstellen können?“ Fesseln. Ölen. Orale Stimulation. Sex in der Natur. Unterschiedliche Stellungen oder Spielzeug. Es gibt alles Mögliche, wo Paare lange warten können, bis sie irgendwie zufällig entdecken, ob sie das mögen. Die Alternative: darüber reden.
„Soll ich beim Sex jedes Mal fragen, was sie mag?“, fragt Steffen, immer noch skeptisch.
Ich schlage vor, vorher dieses auszuhandeln. Ganz grundsätzlich. Wünsche und Grenzen zu klären. Das funktioniert gut, wenn man über Vorstellungen spricht.
Konsens für Einsteiger: Was stellt sich Steffen konkret vor, was schwebt seiner Frau vor? Wie wäre es zum Beispiel, sich zu fesseln? Was passt zusammen, was nicht?
Das ist der erste Schritt. Ein Rahmen wird gesetzt, der Sicherheit bietet – und gleichzeitig Raum für Orientierung und Spontaneität lässt. Wenn jetzt einer von beiden Fesselspiele ausprobieren will, wird es nach diesem Gespräch viel leichter sein zu fragen: Hey, soll ich dir die Hände zusammenbinden?
Konsensgespräche führen wir auch im Alltag. „Willst du heute Abend essen gehen?“ „Ja.“ Klingt einfach. Aber wie genau stellen wir uns das vor? „Ich mag den Italiener.“ Aha! „Aber ich habe keine Lust auf Pizza.“ Hm. Aber sie finden, dass der Tapasladen um die Ecke lecker ist. Also einigen sie sich darauf.
Und dann, alles klar? Ich sag’s mal so: Ja, erst einmal. Denn Konsens ist dynamisch. Er braucht regelmäßige Checks und Kommunikation. Beispiel Tapas-Laden: Beide haben „Ja“ gesagt, aber ausgerechnet heute haben sie den Tisch vor der Toilettentür. Sie stört’s nicht, aber ihn nervt es höllisch.
So ist das mit Konsens: Nur weil wir einmal darüber gesprochen haben, gilt das „Ja“ nicht für immer und nicht in jeder Situation. Deshalb braucht es eine Exit-Möglichkeit. Heute ist der Platz doof? Lass uns heimgehen, wir kommen ein andermal wieder.
Beim Sex ist es ähnlich. Es kann reizvolle Aspekte haben, sich zu fesseln. Theoretisch. Aber ein „Ja“ heißt noch lange nicht „Ich mache es“, sondern eher „Vielleicht mache ich es“. Denn in der erlebten Situation kann es sich anders anfühlen als im Kopf. Vielleicht gefällt es mir sehr – vielleicht aber auch gar nicht.
Wer in einer sexuellen Situation ist, braucht die Möglichkeit, jederzeit aussteigen zu können. Eine Notbremse, wenn es zu entgleisen droht oder sich einfach komisch anfühlt. Innehalten hilft. Einen Moment bewusst wahrnehmen: Wie fühle ich mich? Wie verhält sich mein Partner – mag er das oder wollen wir lieber aufhören
Vereinbaren Sie Exit-Möglichkeiten. Halt, Stop, Nein. Kopfschütteln. Wegdrehen. Hand heben. Sexualität ist Kommunikation pur – ob verbal oder nonverbal. Jedes Paar kann seinen eigenen Weg finden. Konsens kann durch Blickkontakt entstehen, durch körperliche Gesten, durch Hände – oder eben durch Sprache. Der Vorteil von Sprache ist der, dass das potenzial für Missverständnisse kleiner ist. Nicht ausgeschlossen, aber weniger risikoreich als die Interpretation von non-verbaler Kommunikation.
Manchmal sind Worte unschlagbar. Steffen erinnert sich an eine Situation, als er die Vulva seiner Frau geküsst hat und sie seinen Kopf wegdrückte. Er dachte, das würde ihr nicht gefallen und hat es nie wieder versucht. Sie reagiert erstaunt, als sie das hört, denn sie wollte damals nur eine kurze Unterbrechung. Da würde es helfen, einfach zu sagen: „Ich mag, was Du tust, aber ich brauche eine Pause.“
Und wenn man erst im Nachhinein feststellt, dass etwas grenzüberschreitend war? Dieses Potenzial steckt in allen sexuellen Aktivitäten. Man kann Grenzen berühren – oder überschreiten. Manchmal merkt man erst, wenn etwas passiert ist, wie blöd oder unangenehm es sich anfühlt. Dann hat jeder das Recht, „Nein“ oder „Stopp“ zu sagen oder sich der Situation zu entziehen. Danach kommt es darauf an, wie der Partner reagiert.
Ich höre manchmal von Leuten, dass der Partner ihnen vorwirft: „Aber du hast doch Ja gesagt!“ Das kann sein. Trotzdem kann es vorkommen, dass ich etwas tue, was dem anderen nicht gefällt und das manchmal sogar erst im Nachgang klar wird.
Das muss nicht heißen, dass ich etwas absichtlich falsch mache. Ich muss mich auch nicht rechtfertigen. Es ist einfach wichtig, das in dem Moment ernst zu nehmen. Es braucht kein „Ja, aber“, sondern ein „Okay, ich verstehe. Es ist okay.“ [1]
Ich möchte dazu ermutigen, auch im Nachhinein mit dem Partner über unangenehme Erlebnisse zu sprechen: „Gestern habe ich gemerkt, dass es doch nicht so mein Ding war.“ Das hilft der gemeinsamen sexuellen Entwicklung. Weil Menschen, die die Erfahrung machen dass der Partner ihre Grenzen ernst nimmt viel eher bereit sind, Neues auszuprobieren oder überhaupt Lust entwickeln können.
Konsens lässt sich auch durch positive Gespräche einüben. Wenn man darüber redet, was gut war, schafft man Vertrauen. Man kann fragen: „Wie war es gestern Abend für dich?“ Oder selbst erzählen: „Ich fand es besonders schön, wie du in meinen Hals gebissen hast.“
Sprache ist eine Brücke. Mit ihr können wir unsere Bedürfnisse, Vorstellungen und Grenzen ausdrücken – vor, während und nach der sexuellen Aktivität.
Trotzdem finde ich: Man muss nicht jede sexuelle Aktivität totquatschen. Ab und zu reden reicht. Steffen und seine Frau begannen ihre Konsensarbeit auf der theoretischen Ebene. Es fiel ihnen leichter, abseits vom Sex über ihre Vorstellungen zu sprechen. Beim Sex selbst gingen sie einen anderen Weg. Sie verständigten sich mit Blicken und Berührungen. Manchmal reflektierten sie im Nachhinein. Um Sprache zu finden für das, was während des Sex irgendwie nicht in Worte zu fassen war. Und so nach und nach ihre Lust immer wieder neu zu erfinden.
JETZT SIND SIE DRAN
Ja, nein, vielleicht – wie einigen Sie sich im Alltag? Achten sie eine Tag lang darauf, wo sie an Entscheidungspunkte kommen. Versuchen sie, kurz innezuhalten und zuerst für sich zu spüren, was sie möchten. Versuchen sie dann, mit ihrem Gegenüber darüber zu reden – ganz egal, ob es ums Abendessen oder um sexuelle Aktivitäten geht.
[1] Mehr dazu in „Der fatale Ja, aber-Reflex“ https://www.spektrum.de/kolumne/streit-in-der-partnerschaft-der-fatale-ja-aber-reflex/2225307
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