(Keine) Angst vor dem Fremden

Was Eltern tun können, damit Kinder sicher sind – ein Plädoyer für das Bauchgefühl.

Von Carsten Müller

„Letzte Woche tauchte im Eltern-Chat eine alarmierende Warnung auf. Vor der Schule würde öfter ein weißer Kastenwagen parken. Der Fahrer würde gezielt Kinder ansprechen. Das ging wie ein Lauffeuer durch unser gesamtes Viertel. Niemand wusste was Konkretes, aber sogar aus dem Kindergarten unserer Tochter kam auf einmal die Bitte, wir sollten den Kindern erklären, dass sie sich vor Fremden in Acht nehmen müssen. Ich möchte eigentlich nicht, dass unsere Kinder Angst vor unbekannten Menschen haben. Hier ist in zwanzig Jahren noch nie ein Kind gekidnappt worden. Jetzt frage ich mich, ob ich vielleicht zu sorglos bin?“

(Frage eines Vaters bei einem Info-Abend zum Thema sexualisierte Gewalt)

Der Fremde vor der Schule. Der weiße Kastenwagen. Der Unbekannte, der es auf die Kinder abgesehen hat: Was dieser Vater auf einem Elternabend berichtet, hören Eltern in ganz Deutschland immer wieder. Viele versetzt das regelrecht in Panik. Sie impfen ihren Kindern ein, bloß nicht mit Fremden zu sprechen, niemals in ein fremdes Auto zu steigen und schon gar keine Bonbons von Unbekannten anzunehmen. Das wirkt. Ich habe schon erlebt, dass Kinder wegrennen, wenn Spaziergänger einfach nur grüßen.

Aber ich verstehe die Sorge. Mehr noch: ich finde es gut, wenn Eltern sich Gedanken darüber machen, wie sie ihre Kinder vor sexualisierter Gewalt und Übergriffen schützen können. An dem Info-Abend habe ich trotzdem auf die Frage des Vaters, ob er zu sorglos sei, geantwortet: Nein. Sind sie nicht. Und es ist gut, die Warnung zu hinterfragen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind von einem Fremden entführt und sexualisierte Gewalt erfahren wird, ist tatsächlich sehr gering. 

Ein Blick auf die Zahlen: Die polizeiliche Kriminalstatistik 2022[1] legt zwar dar, dass 41,87 Prozent der angezeigten Tatverdächtigen in Fällen von sexualisierter Gewalt an Kindern Fremde sind – während 58,13 Prozent aus dem familiären und sozialen Umfeld stammen. Aber diese Statistik weicht laut Aussage der Kriminalisten ab von dem, das wirklich ist. Die Dunkelziffer in Fällen von sexualisierter Gewalt im familiären und im sozialen Umfeld – dazu zählen auch Schule, Sport, Verein, Kirchengemeine – ist weit höher als die Zahl der Fälle, die angezeigt werden. Weil Anzeigen schwerer fallen, wenn der kompetente Fussball-Trainer oder die geliebte Patentante unter Verdacht stehen. 

Die Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch, bei der 1752 Betroffene befragt wurden[2], zeichnet ein realistisches Bild. Nur sieben Prozent der Täter waren Fremde. Ansonsten fand der Missbrauch in Familie, Institutionen, sozialem Umfeld oder organisierten, rituellen Strukturen statt. 

Die Warnung vor dem unbekannten Fremden im weißen Kastenwagen reduziert also ein wichtiges Thema auf die absolut unwahrscheinlichste Möglichkeit. Damit helfen wir Kindern nicht. Aber wie dann? Kinder sollten zuallererst wissen, dass sie ihre Bedürfnisse äußern dürfen. Darüber hinaus sollten sie eine Ahnung haben, dass es überall Menschen geben könnte, die doofe Dinge mit ihnen machen könnten. Zuhause, im Ferienlager, beim Sport, unter Freunden. Und dass es andererseits Erwachsene gibt, die sie um Hilfe bitten dürfen. Die sie ernst nehmen, wenn sie sich über etwas beschweren. 

Eine ganz banale, aber alltägliche Situation: Wenn ein Kind auf der Straße von älteren Jugendlichen bedroht wird, sollte es das Gefühl haben, anwesende Erwachsene um Hilfe bitten zu können – und keine Angst vor ihnen haben, weil es Fremde sind.

Wichtig ist, dass bei Kindern ankommt: Egal wer doof ist – Du darfst darüber reden. Üben können wir das an kleinen Dingen. Der feuchte Kuss von der Tante: völlig okay, sich dem zu entziehen. Die Eltern und Bezugspersonen sind dafür zuständig, die Interessen ihres Kindes zu vertreten und sich mit der Tante darüber auseinander zu setzen. Klar kann das anstrengend sein. Vielleicht redet das Kind auch mal mit Freunden über Dinge, die in der Familie passieren. Was den Eltern mitunter saupeinlich ist. Gut so! Lassen Sie ihr Kind reden! Denn so wächst die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind nach einem sexuellen Übergriff darüber spricht.

Gleichzeitig bleibt das Bedürfnis, Kinder vor dem berüchtigten Fremden zu schützen. Auf dem Elternabend gab es gleich mehrere Ideen. Einen GPS-Tracker. Standort-Apps. Ein Codewort, das nur Eltern und Kind kennen – und wenn der Fremde das nicht nennen kann, soll das Kind schnell wegrennen. 

Ich schätze das Bemühen der Eltern, Sicherheit für ihre Kinder zu schaffen. Aber auch hier möchte ich auf die Lebenswirklichkeit verweisen. Normalerweise würden Eltern die Schule informieren, wenn ein Kind abgeholt werden muss. Tracker und Apps gaukeln Scheinsicherheit vor. Kein sexueller Übergriff wird dadurch verhindert. Und ein Codewort verschiebt die Verantwortung, sich zu schützen, zum Kind. Hier ist meine Botschaft: Kinder sind nicht für ihre Sicherheit zuständig, sondern Erwachsene. 

„Aber was können wir tun?“ Eine berechtigte Frage, die auf fast jedem Elternabend gestellt wird. Die Antwort lautet: Prävention. Ein großes Thema, deswegen möchte ich dazu eine eigene Kolumne schreiben. Hier aber schon mal einen Tip für den Alltag. Sie können ihren Kindern die Erfahrung schenken, dass ihre Stimme Gewicht hat. Ein Besuch bei Oma steht an, aber Du willst unbedingt noch Playmobil spielen? Okay, lass uns einen Kompromiss vereinbaren – ich rufe an und sage, dass wir eine halbe Stunde später kommen. 

Das sind Momente, von denen Kinder profitieren. So lernen sie, dass es Dinge gibt, die sie nicht aushalten müssen. Das ist es, was Kinder stärkt. 

Einem Kind nützt Angst herzlich wenig. Es braucht Vertrauen und positive (körperliche) Erfahrungen. Einem Kind hilft die positive Erkenntnis: Erwachsene nehmen mich ernst. Und wenn Menschen doof oder übergriffig sind, werden Kinder den Unterschied spüren. Sie werden ein gutes Bauchgefühl entwickeln. Das bringt mehr als Tracker oder Codewörter. Das sichere Gefühl dafür, was uns gut tut oder nicht, leitet uns ein Leben lang durch unterschiedlichste Situationen – und das können wir schon als Kinder lernen.

Und nun sind Sie dran: Nein akzeptieren

Denken Sie an gestern. Oder an einen Tag der letzten Woche. Wann gab es Momente, in denen ihr Kind etwas nicht tun wollte? Überlegen Sie, was passiert wäre, wenn Sie einen Kompromiss ausgehandelt hätten. Irgendetwas wirklich Dramatisches – oder wäre es eigentlich ganz okay gewesen, das Nein zu akzeptieren? 

Finden Sie eine Situation, in der Sie auf das eingehen, was das Kind will. Diese Akzeptanz-Übung funktioniert übrigens auch in Bezug auf die eigene Kindheit: Wo hätten Sie sich gewünscht, dass ihre Eltern ihr „Nein“ gelten lassen?


[1] https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2022/PKSTabellen/BundTV/bundTV.html?nn=211742

[2] https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/aufarbeitung/sexueller-kindesmissbrauch/

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