Wie normal ist eigentlich Analsex – und woher weiß ich, ob ich das möchte? Über Wissen, Aushandeln und die Erkenntnis, dass Sex irgendwie ein andauerndes Ausprobieren bedeutet.
Von Carsten Müller
„Ich bin seit ein paar Monaten in einer festen Beziehung und neulich hat mich mein Freund gefragt, ob wir nicht mal Analsex ausprobieren könnten. Für ihn ist das irgendwie normal, für mich nicht. Ich frage mich, ob ich das wirklich machen will.
Frage in einer Schulveranstaltung
Wenn ich in Schulen mit Jugendlichen spreche, geht es oft um Sexualpraktiken – und das Bedürfnis, zu erfahren, was eigentlich „normal“ ist. Dazu gibt es Statistiken und gefühlten Wahrheiten. Dahinter steht aber eine andere, viel wichtigere Frage: Wie kann ich entscheiden, ob genau das für mich in Ordnung ist? Soll ich – oder soll ich nicht? Ja – oder nein? Die Antwort muss jeder für sich selbst finden und manchmal ist es vielleicht auch ein Jein. Davon abgesehen finde ich, dass man Entscheidungen am besten treffen kann, wenn man das „Wie“ kennt. Deshalb ist es super, wenn Leute direkt fragen.
Mit der Klasse, aus der die Frage nach Analsex kam, habe ich eine Stunde diskutiert, gelacht, eingeordnet und wissen vermittelt. Die Leute waren 17, 18, 19 Jahre alt – das ist ein Alter, in dem es wichtig ist, Antworten zu geben. Wenn wir kein Wissen vermitteln, holen sich die Leute ihre Informationen aus dem Internet – und landen auf Seiten, die mehr daran interessiert sind, Sexspielzeug zu verkaufen, als sachliche Informationen zu vermitteln. Mir geht es darum, Basiswissen zu vermitteln und Raum für Gespräche zu schaffen. Damit dadurch, die Menschen in einen Prozess von selbstbestimmten und bewussten Entscheidungen kommen.
Erstens: Menschen dürfen Analsex haben. Unabhängig vom Geschlecht, unabhängig von der Frage, in welcher Konstellation dies geschieht, kann diese sexuelle Aktivität Teil gelebter Sexualität sein. Kann – muss aber nicht. Damit sind wir beim zweiten Punkt: Wie alle sexuellen Aktivitäten ist auch Analsex etwas, für das sich Menschen gemeinsam entscheiden müssen. Wenn Sex in Beziehungen stattfindet, geht es immer um Aushandlungen. Es wird nie so sein, dass ein Mensch seine Bedürfnisse zu 100 Prozent befriedigt bekommt. Es braucht eine einvernehmliche Entscheidung. Und – damit komme ich zu Punkt drei – dafür brauchen Menschen Wissen und Vokabel, also letztendlich Sprachfähigkeit.
Gerade bei sehr jungen Menschen sieht die Realität ganz anders aus als das, was durch Medien und Pornos in den Köpfen ist. Im Porno ist Analsex von einem patriarchalischen Männerbild geprägt. Der Mann will. Dann geht es ruckzuck. Konsens aushandeln? Vorbereitung? Zeitlassen? Zärtlichkeit? Fehlanzeige. Ich sage es mal so: Dieses Bild von Analsex hat mit der Realität so viel zu tun wie Social-Media-Videos von fantastischen, mühelos gezauberten Wunderkuchen mit dem, was man selbst nach stundenlanger Anstrengung aus dem Ofen holt.
Analsex ist anders, als die meisten Menschen denken – das fängt schon damit an, dass er längst nicht so häufig praktiziert wird, wie viele glauben. Das zeigen auch die Statistiken. Es gibt eine repräsentative Befragung der TU Braunschweig [1], bei der über 2500 Menschen Auskunft gegeben haben, ob sie schon mal Analverkehr hatten. Bei unter 18jährigen war das selten: Nicht mal zwei Prozent hatten rezeptiven Analverkehr erlebt, und nur rund 6 Prozent der jungen Menschen hatten aktiv Analverkehr ausgeübt. Mit dem Alter steigt das an. Unter den etwa 40jährigen gab jeder Fünfte an, im Lauf des letzten Jahres Analverkehr gehabt zu haben [2]. Sobald die Menschen über 45 sind, nimmt der Anteil wieder ab.
Die Schüler und ich haben Fakten besprochen. Zum Beispiel, dass Analsex viel Zeit braucht – und Vorbereitung. Mit allem, was um den After herum passiert, sollte man ganz langsam anfangen. Wenn diese Körperregion berührt wird, wie fühlt sich das überhaupt an? Wie fühlt sich eine Massage an? Außerdem wichtig: reichlich Gleitgel – und zwar richtiges, keine Spucke. Und: Kondome, denn die Gefahr von Mikrorissen in der Haut ist beim Analverkehr größer als beim Vaginalverkehr – und damit auch das Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten. Dieses gilt ebenfalls für die orale Stimulation des Anus – hier empfehle ich sogenannte „Lecktücher“. Es ist auch wichtig zu wissen, dass ein nahtloser Übergang von Vaginal- zu Analverkehr nicht gut funktioniert, schmerzhaft sein kann und auch Krankheiten übertragen kann. Hier macht es keinen Unterschied ob Körperteile oder Sex Toys eingeführt werden. Es muss außerdem nicht gleich die anale Penetration sein, sondern man kann mit sanften Berührungen anfangen und langsam den Druck erhöhen, wenn es gewünscht ist.
Es ist viel einfacherer, etwas Neues auszuprobieren, wenn man sich bewusst ist, dass Sex immer ein Ausprobieren ist. Das ist wie beim Essen. Jedes Mal, wenn man etwas kocht, schmeckt es ein bisschen anders. Oft gut, manchmal aber auch komisch, vielleicht muss ich mich an den Geschmack gewöhnen. Auch gelebte Sexualität fühlt sich nicht immer gleich an und ist nicht immer gleich gut. Manchmal will man weitermachen, manchmal lieber mittendrin aufhören. Das ist die wichtigste Botschaft, die ich den Menschen mitgeben möchte: Probieren Sie aus, was Ihnen gefällt. Aber sagen Sie Stopp, wenn es Ihnen nicht mehr gefällt und hören Sie ein Stopp, dann nehmen Sie es zu jederzeit ernst und handeln dementsprechend.
Wenn Menschen sich auf den Weg machen, Analsex auszuprobieren, braucht es klare Absprachen, ob und wann der nächste Schritt in Ordnung ist. Ich finde es zum Beispiel wichtig zu fragen: Hey, willst du weitermachen, wie fühlt es sich gerade an, sollen wir aufhören? In meiner Vorstellung gleite ich nun mit der Fingerspitze in deinen Anus. Wie ist deine Vorstellung? Sie merken es braucht auch eine explizite Sprache um möglichst sichere Rahmenbedingungen aufzubauen. Das ist wichtig und eine große Wertschätzung sich selbst und dem anderen Menschen gegenüber.
Manchmal werde ich von Eltern oder Lehrern gefragt, wie ich bei solchen Veranstaltungen eine gute Gesprächsatmosphäre schaffe. Meistens ergibt sich das von selbst. Die Schülerinnen und Schüler sind in diesen Runden sehr aufmerksam. Schließlich sprechen wir über Fragen, die sie bewegen. Ich erlebe in diesen Runden keinen Unterschied in Bezug auf die Geschlechtlichkeit. Ein Faustformel die ich teilen möchte, ist die, dass wenn wir die jungen Menschen ernst nehmen mit Ihren Fragen, dann erreichen wir sie auch und können sie somit in selbstbestimmt Entscheidungen begleiten. Ein Ziel, was mich in meiner Arbeit antreibt und was ich allen Eltern und Fachkräften ans Herz legen kann. Nicht immer einfach aber absolut lohnenswert.
JETZT SIND SIE DRAN
Wie bewusst nehmen Sie wahr, was sie wollen – und was sie lieber nicht möchten? Achten Sie einen Tag lang darauf, was ihnen gefällt – und was nicht. Es kann um Wärme oder Kälte gehen, um Essen oder Getränke, oder um Zärtlichkeiten und Sexualität. Schaffen Sie ihr eigenes Bewusstsein dafür, warum Sie sich für etwas entscheiden – oder es lieber lassen.
[1] Julia Haversath u.A., Sexualverhalten in Deutschland: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. 2017. https://www.aerzteblatt.de/archiv/192871/Sexualverhalten-in-Deutschland
[2] https://gesid.eu/wp-content/uploads/2020/09/Infobl%C3%A4tter-GeSiD.pdf
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